Rosszko? Viel Zeit ist seither vergangen, und Eros wächst. Ich habe ihn Eros getauft, einzelne finden das übertrieben, denn ich hätte ja gar keinen Mann, aber ich habe einen Mann und ich liebe ihn; ich liebe Rosszko, und Eros ist ein Kind der Liebe. Meiner Liebe und Rosszkos Liebe. Rosszko liebte mich, und er liebt mich immer noch. Seit ein paar Jahren geht Eros zur Schule. Er beklagt sich ab und zu, weil wir keinen Fernseher haben. Alle hätten einen Fernseher. Wir haben keinen. Ich brauche kein TV. Ich will Rosszko nicht am Fernseher sehen. Irgendwann wird er zurückkehren. Ich weiss das. Denn ich habe in seine Augen geschaut.
Ich hatte damals ein Engagement in einer kleinen Hafenstadt. Schlecht bezahlt – Pianistinnen sind immer schlecht bezahlt, ausser die Stars natürlich, aber Stars braucht es nur wenige –, was mir beim Zusagen egal gewesen war, denn ich hatte mir am Meer etwas Abwechslung erhofft.
Das Hotel hatte mondäne, längst entschwundene Zeiten erlebt, aber ich war zufrieden, denn ich konnte frühmorgens allein am Strand spazieren, stundenlang, bevor ich mich ans Piano setzte. Morgendliches Spielen war zwar nicht vorgesehen, doch ich pflege zweimal am Tag zu spielen, es dient meiner Konzentration. Ich spiele moderne Klassik, improvisiere harmonisch und rhythmisch und singe auch zu meinem Spiel – je nach Stimmung.
Es ging auf die Sommersaison zu, und es waren noch nicht viele Gäste im Hotel. Ich spielte etwa zwei Wochen lang, während das Wetter immer schlechter wurde. An einem Sonntag regnete es ohne Unterbruch und gegen Abend wehte ein heftiger Wind vor den alten Fenstern. Kaum hatte ich mit meinem Spiel begonnen, da kam ein neuer Gast herein. Er setzte sich an einen der Salontische in der Nähe des Piano und bestellte einen Drink. Er war nicht lange da gesessen, da drehte er sich zu mir und beobachtete mich. Dann lehnte er sich zurück und blickte an die Decke. Der stürmische Wind wurde lauter, und ich nahm sein Rollen und das Rattern der Fenster in meine Musik auf, rhythmisierte es und liess es in ein romantisches Glissando übergehen. Die Hoteliers haben wenig Freude an solchen Experimenten, doch wenn sie nicht zu häufig vorkommen, lassen sie es durchgehen.
Ich legte eine Pause ein und trank ein Wasser an der Bar. Der Mann näherte sich mir, blieb neben mir stehen, sprach aber kein Wort. Ich wurde nicht so selten von Männern angesprochen, wenn ich spielte. Sie suchten irgendeinen Vorwand, um Kontakt zu knüpfen. Jener Mann blieb schweigend stehen. Dann bat er mich, nochmals zu spielen. Unbedingt nochmals zu spielen.
Ich nickte. Das war ohnehin so vorgesehen. Ich kehrte zum Piano zurück und begann zu musizieren. Der Mann hatte sich unterdessen umgedreht und war mir gefolgt. Ein paar Schritte vom Piano entfernt blieb er stehen. Während meines Spiels blickte er mit ausdruckslosem Gesicht irgendwohin. Ich konzentrierte mich auf mein Instrument und sang zwischendurch – der Raum war genügend klein, um ohne Mikrophon zu singen, und während des Singens vergass ich den Mann wieder; ich wollte ihn auch vergessen, denn ich wollte nichts mit Männern zu tun haben, vor allem nicht mit solchen, die ein Abenteuer suchen. Ich war lange Zeit mit einem Musiker – befreundet gewesen, ja, befreundet ist das richtige Wort; wir hatten die Musik geteilt, die Freude an der Musik, die Hingabe an die Musik, und wir waren beide derart mit der Musik beschäftigt gewesen, dass wir nicht mehr Mann und Frau waren, sondern Musiker und Musikerin, und ich hatte genug von seiner Musik und von ihm und nach der Trennung war das Gefühl in mir zurückgeblieben, ich hätte gar nicht wirklich ihn gekannt, ihn als Mensch, sondern nur seine Musik.
Als ich mit Spielen aufhörte, stand der Mann immer noch da. Ein paar Leute klatschten verhalten, der Mann aber schaute mich fragend an. Wie ein Kind. Nicht wie ein ein Mann, der eine Affäre mit einer Barpianistin sucht. Ich schritt an ihm vorbei und verliess die Lounge. Ich wollte, wie ich es mir zu Gewohnheit gemacht hatte, nochmals zur Hafenmole hinaus, ging auf mein Zimmer und zog mich warm an. Draussen regnete es. Als ich zur Rezeption hinunter kam, stand der Mann neben der Glastür, mit Hut und Regenmantel, stellte sich mit „Rosszko“ vor und bat, mich begleiten zu dürfen.
Ich nickte. „Warum nicht?“
Er bedankte sich, öffnete mir die Tür, und wir traten in den Regen hinaus. Ich wandte meine Schritte in Richtung Hafen; er ging neben mir her, schweigend, was mir ganz recht war.
Unten am Hafen wehte immer noch ein steifer Wind, und der Regen klatschte uns ins Gesicht. Ich wollte zur Mole hinaus, obwohl mir das Wasser unter die Kleider lief. Rosszko hängte sich bei mir ein, und wir stemmten uns gegen den Wind, bis wir uns am Kopf der Mole in einem Unterstand schützen konnten. Dort blieben wir stehen und blickten ins Meer hinaus. Wir schwiegen beide. Immer noch. Ich war froh, dass er nichts sagte. Er hätte etwas zerstört. Ein Gefühl, eine Stimmung. Das Gefühl, dass etwas Neues anfangen würde, etwas in mir müsste neu anfangen, ich müsste in dieses Meer hinaus, ich müsste das Land hinter mir lassen …
Wir kehrten zum Hotel zurück, und als wir ankamen, troffen wir vor Nässe. In der Rezeption wandte sich der Mann mir zu. Immer noch hatten wir kein Wort gesprochen. „Darf ich Sie um etwas bitten?“, sprach er.
Ich blickte auf.
„Ich reise morgen zur Insel hinüber – und möchte, dass Sie mitzukommen.“
„Das geht nicht“, erwiderte ich, „ich habe hier ein Engagement.“
Rosszko schüttelte den Kopf. „Ich habe das bereits geklärt. Man gibt Ihnen frei. Auf meine Kosten natürlich.“
Tatsächlich liefen vom Hafen täglich zwei Fähren nach einer Insel, auf der früher missliebige Bürger verbannt worden waren und deren Besuch ich hinausgeschoben hatte. Nach kurzem Zögern sagte ich zu. Ich hatte mich vom Hotelier drängen lassen, keinen freien Tag einzuschieben, sondern regelmässig die Gäste bei Laune zu halten, und war nun froh um die Abwechslung.
Rosszko lud mich am nächsten Morgen zum Frühstück an seinen Tisch und liess es sich nicht nehmen, mir vom Buffet alles nur Wünschbare zu holen. Er selbst ass wenig und sprach nicht viel, sondern beobachtete mich beim Essen. Das Wetter war besser, und wir spazierten wieder zum Hafen hinunter; unser Gepäck hatte er bereits vorausgeschickt. Auf dem Schiff drehte er sich unvermittelt zum mir und sagte, dass er noch nie in seinem Leben solche Musik gehört habe.
Ich bekomme oft Komplimente für meine Musik. Meist begeisterte, gerade nach dem Spielen. Rosszkos Worte waren kein Kompliment, sondern eine beiläufige Bemerkung, so kam sie jedenfalls daher, als ob er selbst die Wirkung der Musik, meiner Musik, nicht wahrhaben wollte. Und doch blieb er wieder schweigend stehen, in sich versunken. Offenbar gebannt von der Erinnerung.
Bleischwer hingen die Wolken rundherum über dem Meer, aber es regnete nicht, und die Luft war lau. Ich blieb während der ganzen Überfahrt an einem windgeschützten Ort auf Deck. Von Rosszko sah ich wenig, was mir ganz recht war. Ich genoss die Fahrt und die Weite des Meeres.
Nur zwischendurch lud er mich zu einem Kaffee ein, doch nicht im Restaurant des Schiffs, sondern oben auf der Brücke. Der Kapitän und zwei Offiziere hiessen mich willkommen; ein Kellner servierte Cappuccino und süsses Gebäck; Rosszko schien mit dem Kapitän auf vertrautem Fusse zu sein; die Männer scherzten, und Rosszko meinte, seine Begleiterin hätte besseres Wetter verdient, dasselbe gelte für ihn, dann fragte er, um wie viel kürzer die Überfahrt wäre, wenn ein Tragflügelboot zum Einsatz käme.
Der Blick von der Brücke über das ganze Schiff war grossartig, und bereits zeigte sich am Horizont eine graue Linie, zweifellos unser Ziel, die Insel. Trotzdem zog ich es vor, wieder an die frische Luft zu gehen, und draussen das Ende der Fahrt abzuwarten.
Das Städtchen auf der Insel wirkte verschlafen. Es lag an einem Bergrücken, und enge, steile Gassen zogen sich bis zu einer Kirche hoch. Ein Offizier der Fähre führte uns zu einem altmodischen Hotel mit bunten Glasfenstern an der Front und einer mit Gipspfeilern verzierten Halle. Rosszko legte Wert darauf, dass das grösste Zimmer mir zur Verfügung gestellt wurde. Ein alter, von aussen beheizbarer Kachelofen wärmte den Raum, während feuchtkalte Luft durch Flur und Treppenhaus kroch.
Das Hotel führte keine Küche mehr; doch Rosszko lud mich zum Mittagessen ein, und gemeinsam speisten wir in einem nahe gelegenen Restaurant, das Rosszko als das beste im Städtchen genannt worden war.
An den nächsten Tagen wurde das Wetter milder; die Sonne brach ab und zu durch die Wolkendecke, aber die Abende waren wiederum kühl, und nachts regnete es in Strömen. Rosszko sah ich jeweils nur kurz; er erkundigte sich nach Wünschen meinerseits, doch ich war zufrieden und genoss die Wanderungen auf den Berg hinauf, wo sich die Ruine einer Zitadelle befand, und zu zwei, drei Bauernweilern, wo ich mich verköstigen konnte.
Auf dem Rückweg von einer dieser Wanderungen hörte ich Klavierklänge. Sie begleiteten einen Kinderchor. Das Haus, aus dem die Musik kam, diente offenbar als Schulhaus, wirkte aber eher wie ein altes Kloster. Ich blieb stehen. Ich hatte seit drei Tagen nicht gespielt. Eigentlich übe ich täglich, damals und jetzt. Auch in den Ferien. So wartete ich, betrat nach dem Verstummen der Musik das Haus und fragte die Lehrerin um Erlaubnis, üben zu dürfen.
Dem stehe nichts entgegen, meinte sie, solange ich dem Instrument Sorge trage, es sei auf der Insel neben der Orgel in der Kirche das einzige mit Tasten. Ich begann zu spielen, und offenbar hatte die Lehrerin keine weiteren Verpflichtungen, denn sie setzte sich auf einen der Stühle an der Wand und lauschte meinem Spiel. Das Klavier war alt und etwas langsam im Ansprechen der hohen Töne, dafür gut gestimmt. Nach langem Spiel klappte ich den Deckel zu und bedankte mich. Die Lehrerin freute sich über die Abwechslung und bot mir an, jederzeit spielen zu dürfen und ich soll den Schlüssel bei ihr im Nebengebäude holen.
Als ich wieder auf den Platz hinaustrat, stand Rosszko da. Wie er mich erblickte, eilte er herbei. Er müsse mit mir reden. „Ihre Musik ist – himmlisch. Und Sie – Sie sind eine Magierin. Nicht von diesem Boden. Nicht von dieser Welt. Sie -“ er brach ab und schwieg, dann entschuldigte er sich, dass er mich vernachlässigt habe. Geschäfte hätten ihn abgehalten. Und warum ich einsam hier oben spiele und nicht unten. Im Hotel.
Er stand in seinem Anzug da, elegant, geschäftlich, und hatte gleichzeitig etwas Reines, etwas Kindliches, etwas Unschuldiges an sich. Wie ein Junge, der in eine ihm fremde Welt tritt. Dabei schätzte ich ihn älter als mich, sicherlich welterfahrener. Und doch: Diese Erfahrenheit war hier bedeutungslos.
Rosszko bat mich, mit ihm zum Hafen hinunterzukommen und zu spazieren. Die Abenddämmerung setzte ein, doch diesmal war die Witterung mild und der Himmel strahlte in hellem Blau. Rosszko stellte mir noch und noch Fragen. Wie ich zur Musik gekommen sei, und warum ich hier spiele und nicht in einer Konzerthalle, und wie ich meine Musik wähle und woher ich sie hätte und warum ich so spiele und nicht anders, und er habe noch nie solche Klänge gehört und eine ganz neue Welt eröffne sich ihm, eine Welt voller Zauber, und ich sei eine Zauberin, und wieder fragte er, fragte mich nach dieser meiner Welt, die ja für mich eine alltägliche ist, eine selbstverständliche Welt, denn ich bin in ihr aufgewachsen, nein, ich bin in sie hinein geboren worden …
Rosszko aber befand sich auf der Schwelle zur meiner Welt, der Welt der Musik, der Phantasie, der Bewegung, des Fliessens. Mir so vertraut, dass ich mir ihrer Magie gar nicht mehr bewusst war.
Rosszko wich an diesem Abend nicht von meiner Seite, und am nächsten Morgen führte er mich zur Fähre, die eben in den Hafen fuhr. Ein riesiger Container wurde vom Deck gehievt. Rosszko fragte mich: „Wohin damit?“
Der Container enthielt einen Flügel. Ich lachte und schüttelte den Kopf. Rosszko fand rasch den richtigen Ort: Der verwaiste Speisesaal des Hotels. Es wurde Nachmittag, bis der Flügel am richtigen Platz stand. Ich fürchtete um seine Stimmung, doch der Organist der Kirche, der in einer Schar Neugieriger verwundert das Ausladen des Pianos verfolgte, besass Werkzeug zum Stimmen, und wir machten uns gemeinsam an die Arbeit.
Mehrmals kam Rosszko zu Besuch, fragte nach Wünschen, liess Getränke servieren, ja als sich das Stimmen hinzog – der Organist war ein gleicher Perfektionist wie ich –, wurden wir von ihm mit Essen versorgt. Schliesslich gab der Flügel einen wunderbaren Klang von sich, der durch den Raum schwebte, satt und doch charaktervoll nuanciert, als ob er nie woanders gestanden hätte. Wir legten das Werkzeug beiseite, und der Organist intonierte ein Stück aus der Spätrenaissance, für Orgel geschrieben, das ich gut kannte und zu dem ich melodisch und rhythmisch improvisierte. Der alte Mann strahlte und nickte und flüsterte, wir hätten da wohl noch einiges vor, wir beide, doch die Kirche rufe und die Abendandacht.
Ich spielte weiter und wechselte zur lateinamerikanischen Moderne; der Flügel schien von selbst spielen zu wollen, und ich verlor mich in melancholischen Klängen, während vor den geöffneten Fenstern die Dämmerung fortschritt. Als ich absetzte, merkte ich, dass Rosszko noch im Raum war. Sein Gesicht leuchtete im fahlen Licht und seine Augen waren feucht und glänzten.
Er schien zu träumen, doch dann drehte er den Kopf nach mir, stand auf, beugte sich zu mir hinunter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, küsste die Hände, küsste sie noch und noch und drückte sie an seine Brust. „Sie haben mich erweckt, sie haben meine Seele erweckt, haben mich zum Leben geführt, zum wahren Leben, Sie haben meinem Geist – ja, die Tür geöffnet. Meine Muse – darf ich das so sagen? Sie sind meine Muse, eine Göttin, Sie und ihre Musik, nein, Sie selbst, Sie sind die Musik, Ihr Klang … Sie sind wunderbar … Die Welt hat sich mir aufgetan - die Welt - unsere Welt. Kommen Sie!“
Rosszko nahm mich bei der Hand, und wir verliessen das Hotel. Wir stiegen die engen Gassen durch das Städtchen hoch bis wir beim Kirchplatz ankamen. Dort blieben wir stehen und blickten zum von vielen Lichtern beleuchteten Hafen hinunter. Rosszko zeigte auf die Schiffe und den Kran, der mit seinem Arm zurückzuwinken schien. Er erklärte mir die verschiedenen Gebäude der Stadt; er schien sie alle zu kennen und bereits besucht zu haben. Er kannte die Richtungen der weit entfernten Häfen, von denen die Insel versorgt wird.
Wir liessen das Städtchen hinter uns und stiegen weiter bergwärts auf dem gewundenen Weg aus Platten, der zu den Ruinen der Zitadelle führte. Rosszko war voller Begeisterung; immer wieder blieb er stehen und blickte über das Städtchen, den Hafen und die gewundene Küste der Insel, von der immer mehr im Licht des Mondes zu sehen war. Der Tag war strahlend gewesen und hatte den Sommer angekündigt, und der sanfte Wind, der vom Meer her wehte, war mild. Von der Zitadelle aus konnte man den grössten Teil der Inselküste überblicken; das Meer dehnte sich weit in einen unbestimmten Horizont, und doch schien es – uns schien es – als ob es in seiner Gesamtheit zur Insel gehörte, als ob nur die Insel aus dem Wasser ragen würde, als ob die Welt, die feste und bewohnte Welt nur aus der Insel bestände.
Wir setzten uns auf die warmen Steinplatten vor der Zitadelle. „Unsere Welt“, sprach Rosszko, „unsere Welt, mir eröffnet durch Musik, durch Zauberkunst. Unsere gemeinsame Welt, in der sich Traum und Wirklichkeit verbinden.“
Ich hatte dieselbe Empfindung. Rosszkos Nähe, Rosszkos Begeisterung für das nächtliche Licht und den Himmel, für die Weite und Grösse des Raumes, in dem wir beide das Zentrum bildeten, öffnete mein Herz, das der Musik und ihrer Phantasie gehörte, sonst aber, in der übrigen Welt, einsam und sehnsüchtig geblieben war. Rosszkos Nähe steigerte diese Sehnsucht ins Unermessliche, und ich spürte, wie ich ihrer Erfüllung nahe war.
Wir streckten uns aus und blickten schweigend in den Himmel. Ich zitterte, doch nicht weil ich fror, sondern aus Verlangen, aus Sehnsucht nach ebendieser Welt, die Rosszko durch mich eröffnet worden war und die ich mir meinerseits von ihm erhoffte. Rosszko deckte mich mit seinem Jackett zu, und wir blieben liegen und schliefen ein und schliefen vor dem Gemäuer der Zitadelle bis zur Morgenröte.
Am nächsten Tag bat mich Rosszko beim Frühstück – wir sassen am Hafen vor einer Cafeteria an der Sonne – um ein Konzert für seine neuen Freunde im Städtchen. Ich könnte so auch gleich Bekanntschaft mit allen schliessen. Ich sagte zu, betonte aber, dass ich mich an mein Repertoire halten müsse, denn ich hätte keinerlei Noten bei mir. Das sei überhaupt kein Problem, meinte er begeistert und dankte mir. Und: Er wolle mich überraschen. Damit verabschiedete er sich und eilte davon.
Ich spazierte dem Ufer entlang, genoss den strahlend blauen Himmel, das sanfte Rauschen des Meeres, das schrille Rufen der unruhigen Möwen, das strahlende Gelb des Ginsters in den kleinen Buchten, genoss die Einsamkeit, die keine mehr war, denn ich hatte mit Rosszko den Blick in die Sterne geteilt. Ja, ich war verliebt, verliebt in einen Mann, den ich kaum kannte, den ich überhaupt nicht kannte – ich war zum ersten Mal verliebt, wirklich verliebt, doch verlieben, wirklich verlieben heisst, sich ins Fremde, ins Unbekannte verlieben.
Weit ausserhalb der Stadt zog ich meine Kleider aus und badete die längste Zeit im noch kühlen Wasser, liess mich von den Wellen hin und her schaukeln, bis mich fror und ich mich an der Sonne wieder wärmen musste. Als ich zum Hafen zurückkehrte, erblickte ich Rosszko, der mir gestikulierend entgegenlief. Er habe mich überall gesucht und wolle mir etwas zeigen, aber erst nach dem Essen. Wir speisten eine Kleinigkeit, diesmal im Schatten, denn die Sonne stand im Zenit und brannte sommerlich auf die Steine des Hafenplatzes.
Ich spürte, dass irgendetwas bevorstand. Rosszko bezahlte und erhob sich. Er wolle mir etwas zeigen. Er zog ein kleines, in unscheinbares Papier gewickeltes Paket aus der Tasche und überreichte es mir. Ich solle es jedoch noch nicht öffnen, sondern erst mit ihm kommen. Wir stiegen die Gasse durchs Städtchen auf demselben Weg wie am Abend zuvor hoch. Bei einem der obersten Häuser blieb Rosszko bei der Pforte stehen, suchte in seiner Tasche, zog den Schlüssel hervor, öffnete und forderte mich auf einzutreten. Die Eingangshalle war leer, nur ein golden gerahmter Spiegel hing an der Wand, der von zwei Reihen bunt bemalter Lampen erleuchtet wurde. Rosszko bat mich weiterzugehen. Ich öffnete eine dunkle Holztür und gelangte in einen prächtigen Salon mit grossen Fenstern und einem weit geöffneten breiten Portal, das auf eine Terrasse führte. Der Boden war bedeckt mit einem wunderbaren Teppich mit Blumenmuster. Und in der Mitte stand: das Piano.
Rosszko führte mich auf die Terrasse hinaus. Diese war eine Art Dachgarten und in ihrem hinteren Teil von einer Pergola beschattet; doch die Brüstung lag in gleissendem Sonnenlicht. Wir traten nach vorn. Der Blick über den Hafen und das smaragdgrüne Meer war überwältigend. Rosszko strahlte wie ein Kind und bat mich, sein kleines Geschenk zu öffnen.
Ein Ring mit einem Stein so tiefgrün wie das Meer vor uns kam zum Vorschein. „Wenn ich könnte, würde ich nicht den Ring, sondern das Meer schenken, dir, meiner Zauberin, meiner Muse, die mir die Musik und das Leben geschenkt hat. – Lass uns hier bleiben. Hier in diesem Haus. Lass uns hier wohnen – und musizieren. Die Insel bewohnen. Wir beide gemeinsam!“
Ich fiel Rosszko um den Hals und küsste ihn. Wir gemeinsam. Mann und Frau. Wir würden hier wohnen, wir würden gemeinsam leben, gemeinsam das Haus und die Insel erklingen lassen. Wir kehrten wieder in den Salon zurück.
„Wie hast du das Piano …“, fragte ich, doch bevor ich den Satz beenden konnte, antwortete er: „Zauberei. Auch ich kann zaubern. Auf meine Art.“
Und nochmals wurde der Organist gerufen, der schmunzelnd und kopfschüttelnd und schwer schnaufend mit seinem Köfferchen voller Schlüssel zu uns hochstieg. Und nochmals stimmten wir das Instrument, während der Raum mit Stühlen und die Terrasse mit weichen Sesseln und Kissen möbliert wurden. Zwischendurch eilte ich immer wieder hinaus und blickte in den Himmel und übers Meer.
Gegen Abend kamen Gäste, Rosszkos Gäste, die ich alle nicht kannte. Alles plauderte angeregt, während ich leise einige Fingerübungen machte, um mich auf die Musik konzentrieren zu können. Dann gab ich mein Konzert, das die Gäste offensichtlich erfreute, denn beim anschliessenden Essen auf der Terrasse wurde ich von allen Seiten für mein Spiel beglückwünscht; solche Klänge habe die Insel seit langem vermisst. Einer der Gäste liess Raketen zum Himmel steigen; festliche Stimmung erfüllte die Gesellschaft weit in die Nacht hinein. Dann wurden die Gäste verabschiedet, von Rosszko und mir, und müde und doch voller Erregung sanken wir auf die Kissen der Terrasse, lagen uns in den Armen und liebten und liebten uns unter dem weiten Sternenhimmel.
Die nächsten Tage verbrachte ich am Flügel, stieg abends zur Ruine hinauf und wartete da auf den Sonnenuntergang. Dann traf ich mich jeweils mit Rosszko, der den ganzen Tag mit seinen Geschäften verbrachte, am Hafen, wo wir assen, bevor wir wieder zum Haus hinaufstiegen. Wir hatten keine Eile mit dessen Einrichten; Musik und Himmel und Meer und Licht reichten uns.
Eines Tages hörte ich von Ferne ein Surren, das anschwoll und schliesslich ohrenbetäubend wurde. Ich trat auf die Terrasse hinaus. Ein riesiger Hubschrauber war im Anflug und setzte nach mehreren Runden über der Stadt mitten auf dem Hafenplatz ab. Ich wunderte mich über das so fremd wirkende Gefährt und seinen Landeplatz und begab mich wieder ans Piano, doch die Konzentration war weg, und schliesslich machte ich mich auf den Weg zum Hafen hinunter. Mitten auf dem Platz befand sich nicht nur der Hubschrauber, sondern eine Anzahl Männer, von denen ich einzelne als unsere Gäste wiedererkannte; zum Teil aber waren es Fremde, allesamt in dunkle Geschäftsanzüge gekleidet, die dem Hubschrauber entstiegen sein mussten. Erst mit der Zeit entdeckte ich Rosszko in der Gesellschaft. Meinen Mann.
Alle waren in ein Gespräch vertieft; Schriften wurden studiert, während zwei, drei von ihnen einen grossen Plan entfalteten und am Boden ausbreiteten, worauf alle ihn umstanden. Der Hubschrauberlärm hatte nicht nur mich auf den Platz gerufen, sondern auch Einwohner der Stadt, die nach und nach herbeiströmten. Auch der Organist stieg die Gasse hinab und gesellte sich zu mir. Ich fragte ihn, was denn hier vorgehe.
„Das wissen Sie nicht? Ausgerechnet Sie?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Der Hafen wird umgebaut. Die Stadt wird umgebaut. Die Insel …“
Ich blickte ihn fragend an.
„Investoren. Touristik. Banken. Können Sie sich vorstellen, wie das hier in ein paar Jahren aussieht? Hier bleibt kein Stein auf dem anderen. Wir werden reich. Vielleicht nicht gerade wir alle …“ Der Organist zuckte mit den Schultern.
Immer mehr Menschen strömten auf den Platz, und allmählich war ein Murren zu hören, erst von drüben, von den Hafenarbeitern her, dann aber auch aus der Gasse hinter mir. Die Menschen drückten nach vorn. Ich wollte hinüber zu Rosszko, aber der alte Organist packte mich mit seiner noch kräftigen Hand und schob mich in einen Hauseingang. Das Murren schlug um in ein Schimpfen und Rufen und Drohen, und die Menschen drängten sich gegenseitig auf den Platz hinaus. Erst in diesem Moment schienen die Besucher rund um den Plan die Gefahr zu erkennen. Sie schreckten auf und rannten zum Hubschrauber, dessen Pilot noch vor seiner Maschine stand. Er erklomm hastig die Leiter und warf die Motoren an. Unterdessen folgte ihm die ganze Gesellschaft. Das Motorengeheul und die sich in Bewegung setzenden Rotoren liess die Menge der Menschen zurückweichen. Die längste Zeit brüllten die Turbinen, bis die Maschine abhob und übers Meer verschwand.
Seither lebe ich auf der Insel. Rosszko ist nie mehr erschienen. Ich habe ihm geschrieben. Am Tag, nachdem er verschwunden ist. Und am Tag nach der Geburt unseres Sohnes. Rosszko hat nicht geantwortet.
Den Ring trage ich täglich. Ausser wenn ich musiziere. Und: Ich lebe im Haus. In unserem Haus. Und gebe an der Schule Unterricht. Vor langer Zeit habe ich die Lehrerin abgelöst. Und auch den Organisten in der Kirche. Er hat mich rechtzeitig unterwiesen. Ab und zu gebe ich ein Konzert. In der Kirche.
Eros werde ich bald vermissen. Wenigstens unter der Woche. Hier auf der Insel gibt es nur eine Grundschule.
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Andreas KöhlerLessingstrasse 2CH - 9008 St. GallenDr. med. / FMH Psychiatrie und Psychotherapie