Rosszko? Das Politische interessiert mich überhaupt nicht. Eigentlich sollte es gar nichts Politisches geben – aber vielleicht hört es ja mit Rosszko und der Kommunity auf. Wenn wir alle eine Kommunity sind, dann brauchen wir gar keine Politik mehr. Ich bin Lehrerin, Handarbeit und Hauswirtschaft. Ein volles Pensum. Eigentlich hätte ich gerne eine Familie gehabt, zwei, drei Kinder, aber der Richtige wollte nicht kommen, damals. Vielleicht war ich auch zu schüchtern.
Ich singe. Meine ganze Freizeit ist dem Singen gewidmet; ich singe im Chor der städtischen Oper, singe Alt und Mezzosopran. Meine Stimme ist ausgebildet, aber zu einer Karriere hätte es nicht gereicht, wobei ich das nicht wirklich weiss, denn als ich jung war, dachte niemand daran. Ich auch nicht; aus meinen Kreisen machte man keine Musikerkarriere.
Der Höhepunkt – unser Höhepunkt, mein Höhepunkt – ist das Sommerfestival der Oper. Ich mache darum seit Jahren keine Sommerferien. Sondern übe meine Stimme und probe. Ich arbeite sogar bei den Bühnenaufbauten im Klostergeviert mit. Freiwillig. Unser Kloster ist eines der ältesten überhaupt, das heisst, eigentlich ist es gar nicht so alt, verglichen mit den wirklich alten, denn das alte Kloster wurde abgerissen, als einer der Äbte fand, ein neues müsse her. Neues müsse man schaffen; man sei sich und den blühenden Landen etwas schuldig, und der Stadt, die dem Kloster den Rücken zukehrte, wolle man es zeigen.
Er holte die bekanntesten und begabtesten Baumeister, Steinmetze und Künstler und liess Pläne erstellen, und eine wunderbare Anlage wurde geschaffen, allerdings nutzlos das Ganze, mindestens nutzlos als Kloster, denn Mönchsdemut und Äbteherrschaft kam alsbald aus der Mode und die Herren wurden vertrieben. Genaueres kenne ich nicht – ich bin in der Schule für die Hauswirtschaft zuständig und nicht für Geschichte. Die Gebäulichkeiten dienen heute der Verwaltung und dem Tourismus; insbesondere der weite Platz dazwischen – eher zu gross für unser Stadt – lädt im Sommer zu einem Festival ein, Höhepunkt unserer Kultur und meiner eigenen Hingabe an den Gesang.
Im Kloster, am Festival singe ich am liebsten. Ich singe, weil Gesang mein Intimstes ist und mich doch verbindet mit allen anderen Sängerinnen, mit dem Publikum, ja mit der Welt rund um mich, mit der Welt die mitklingt, mitschallt, wenn wir alle gemeinsam unsere Stimmen erheben. Wir erheben nicht nur unsere Stimmen; wir erheben uns alle, wir schweben in eine höhere, in eine klangvoll-geistige, göttliche Welt; wir lassen all Niedrige, Niederträchtige unter uns und vereinen uns in paradiesischen Gefilden.
Mit dem Festival kommen viele Gäste in unsere Stadt, und darum werden auch populäre Opern aufgeführt. Nicht die ganz, ganz populären, die kann man ja überall besuchen. In diesem Jahr aber … Da war alles anders. Es kam zum Streit um die Wahl der Oper. Politiker, Musikkritiker, Medienfachleute, die Sponsoren stritten sich. Wer sich durchsetzte, blieb mir verborgen, aber man entschloss sich, die Oper eines unbekannten, einheimischen Komponisten aufzuführen, eines Komponisten, der jahrelang an seinem Werk gearbeitet hatte. Eine eigene Oper. Er erhielt den Zuschlag, weil er sich mit den Zeitläufen auseinander setzte, den Geschehnissen um Rosszko.
Das Werk ist schwierig, und wir übten und übten, und das Festival wurde ein Erfolg. Finde ich jedenfalls. Die Musik ist modern, sehr modern, elektronisch, mit komplexer Rhythmik, Einsprengseln von klassizistischem Barock, so jedenfalls bezeichnete es der Komponist, der am Galaabend nach der Uraufführung neben mir am gleichen Tisch sass. Warum sich das so ergab, weiss ich nicht. Ich vermute, es war ein Versehen, und der Komponist war erst auch nicht wenig pikiert, als er bemerkte, dass er nicht bei der Intendanz und den Grössen der Stadt zu sitzen kam.
Ich verstand das erst viel später. Man war zwar stolz auf einen lokalen Komponisten, stolz darauf, eine Welturaufführung geboten zu haben, stolz dies gerade in dem Jahr durchgeführt zu haben, da grosse weltweite Umwälzungen stattfinden, aber im Grunde ist der Komponist keineswegs einer der ganz grossen, bekannten Gestalten, so dass er auch nicht besonders geehrt werden musste. Er war – und ist es noch – von der menschenscheuen Sorte, so dass man ihn in der Stadt kaum kannte und sich auch nicht mit ihm zu zeigen brauchte. Da war es ganz natürlich, dass der Musikerkern und die Opernfreunde unter sich sein wollten.
Ich war erst verlegen und schwieg die längste Zeit, wie es auch meine Art ist, dann fragte ich ihn doch etwas über die Oper, denn offen gestanden hatte ich den Aufbau und den Sinn nicht begriffen, trotz der Erklärungen im üppigen Programmheft und der Ausführungen des Chorleiters. Der Komponist gab kurz angebunden Antwort, und ich fragte nochmals nach, und nochmals, und dann blickte er mir in die Augen und erkundigte sich seinerseits, ob mich denn das überhaupt interessiere. Ich nickte, und er meinte, ich sei die erste, die Fragen stelle, niemand stelle Fragen, dabei sei das Werk voller Fragen, und er sei ein Komponist von Fragen, nicht von Antworten. Ich war etwas perplex, doch er war bereits in Fahrt gekommen und erklärte mir den Sinn des Ganzen.
Er meinte, wir seien wieder in eine barocke Zeit geraten, eine Zeit der Fülle, aber auch eine Zeit der Ordnung, der tiefen, mathematischen Ordnung, die nicht mehr reine Mathematik sei, sondern angewandte Mathematik, praktische Mathematik, computerisierte Mathematik. Und genau das drücke er mit seiner Musik aus. Es sei eine rechengesteuerte, synthetische Musik, die doch gesungen werden müsse, von Menschen, denn nur menschliche Stimmen würden die Gefühle transportieren, zu den anderen Menschen, den Hörern; er sei darum auch gegen das Aufnehmen von Musik auf Tonträger, oder gar Computer, nein, Musik müsse gesungen und auf Instrumenten gespielt werden, aber die Komposition sei geistig, sei organisiert, gehorche einer höheren Ordnung, müsse darum rechnerisch vor sich gehen, genauso wie seinerzeit die sphärisch-chromatische Musik und noch viel früher die orphischen Klänge.
Und das Ganze sei ein Problem der Medien, und wir hätten die Medien nicht verstanden, keineswegs verstanden, wir würden sie zwar nutzen, wie wir behaupten, doch sei das lächerlich, in Tat und Wahrheit würden wir uns ihnen unterwerfen und ein katastrophales Chaos anstellen, statt sie für eine höhere Ordnung verwenden, und das sei doch die Idee von Rosszko gewesen, die Hoffnung, die Rosszko vermittle, nämlich eine allgemeine Ordnung aufzubauen, und genau das habe jener Abt auch getan, darum die Oper, darum die absoluten Klänge mit den absoluten Mitteln.
Was der Abt in der Architektur gesucht habe, ein himmlisches Ideal, suche Rosszko im Kosmos der Menschheit, er aber, der Komponist, im Raum der Klänge, der sich in alle ewigen Sphären erstrecke.
Er war ins Feuer geraten, der Komponist, und bewegte sinnenvergessen seine Hand über meinen Unterarm und begann mit den Fingern wie auf einer Tastatur die Töne zu spielen, die seine Worte begleiteten. Dann schwieg er unvermittelt und schien seiner eigenen Musik zu lauschen, während rund um uns geplaudert und gegessen wurde.
Ich war vollkommen verwirrt, und ein Schwall von Gefühlen bemächtigte sich meiner, Sehnsucht, Sehnsucht nach dieser Hand, Sehnsucht, sie möge immer weiter und weiter spielen, ihre stumme Musik möge durch meinen Körper gleiten, möge mein Ohr erreichen, einzelne Passagen des eben Gesungenen gesellten sich aus meinem Gedächtnis dazu, doch auch Furcht wollte sich in die Sehnsucht mischen, Furcht aus einer Ruhe und Gemächlichkeit herausgerissen zu werden, Furcht, ich könnte mich in ein Verlangen stürzen, in ein Verlangen nach diesem Zauberer des Klanges, der zwischendurch weiter sprach, Sätze, die ich nur in Bruchstücken vernahm, irgendetwas von Rosszko, der der Inbegriff dieser neuen barocken Zeit sei, eine Art Astralkönig, ein Absolutum, und auch die Musik müsse absolut sein, Worte, die ich nicht verstehen konnte und auch nicht wollte, denn ich spürte, dass in mir das Verlangen anschwoll, das Verlangen nach Liebe und Zärtlichkeit, nach einer musikalischen Zärtlichkeit, und ich meinte, seine Musik ströme aus den Fingern seiner Hand durch meinen Arm tief in mein Herz.
Nur Bruchstücke blieben mir von seinen Ausführungen, die niemand rundherum hören wollte, die niemanden interessierten, denn alles war am Trinken und Essen und sich Amüsieren, ausser meinem Komponisten – ich schreibe mit Recht meinem Komponisten, denn er gehört mir, insoweit ein Mensch einem anderen gehören kann, er gehört mir, denn ich sorge für ihn und ich sorge mich um ihn, ich allein – ausser meinem Komponisten, der in seinen Sphären aufging und kaum am Glas nippte, das vor ihm stand.
Er gehört mir, der Komponist, seither. Er sprach und glühte und spielte mir, mir allein, ein zweites Mal seine Musik, und wir verliessen das Gelage, das Uraufführungsgelage, spazierten durch die Gassen der Stadt und fanden einen ruhigen Garten, wo wir Wein tranken und der Komponist mit alles nochmals erklärte, die ganze Sphärenharmonie, die nicht uralt und längst verschwunden, sondern erst im Entstehen sei, und er hielt wieder meine Hand, und die Harmonie strömte durch unsere Glieder; meine Augen wurden feucht und ich weinte, vor Glück und Harmonie.
Wir blieben beieinander, der Komponist und ich; wir gehören zueinander, auf unsere eigene Art. Die Oper wurde noch etliche Male aufgeführt; die Ränge waren voll, denn es war ein schöner Sommer und die Menschen hatten Verlangen nach Freude und Unterhaltung, und die Kritiken waren gut, sogar sehr gut, aber das hiess keineswegs, dass dem Schöpfer ein neuer Auftrag gewinkt hätte – man vergass ihn und die Oper und plant bereits wieder fürs nächste Jahr – etwas Bekanntes, bei dem keiner auf die Idee kommen könnte, er müsste nach dem Sinn fragen.
Ich sorge jetzt für ihn, für den Komponisten – denn zu etwas anderem als Komponieren ist er nicht fähig, war es nie, und wie er sich früher durchgebracht hat, ist mir ein Rätsel. Er ist nicht anspruchsvoll, keineswegs, so wenig wie ich, mein Gehalt reicht bei weitem für uns beide.
Er komponiert – ab und zu. Nicht viel. Er hat sich verausgabt; er ist müde geworden. Was das alles mit Rosszko zu tun hat? Ich weiss es nicht. Ich habe das ganze Gerede um Rosszko im Grunde nicht verstanden. Die Welt ist mir zu gross. Aber – in jenem Moment, da er, mein Komponist, neben mir sass und alles erklärte, da meinte ich, Rosszko verstanden zu haben. Das Grosse. Das Grosse, das – etwas ermöglicht, das – Wände einreisst, irgendwelche Wände – meine eigenen jedenfalls, das Grosse …
Impressum und Copyright:
Andreas KöhlerLessingstrasse 2CH - 9008 St. GallenDr. med. / FMH Psychiatrie und Psychotherapie